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Hype oder Substanz? Was ist wirklich dran an “glutenfrei”? Nahrungsmittelallergien betreffen etwa doppelt so häufig Frauen wie Männer. Trifft das auf Gluten auch zu? Ist Glutenunverträglichkeit weiblich und sich darüber zu amüsieren männlich? In einem Praxisbericht, veröffentlicht in der Medical Tribune, teilte vor einiger Zeit Dr. Tauber-Bachmann ihre Ansichten und Erfahrungen zu diesem Thema. Wir wurden häufig dazu angefragt und sind dem Thema wissenschaftlich nachgegangen.

Erst einmal müssen wir über Zöliakie sprechen

Die Zölikie (ICD10: K90.0) ist eine durch Glutenunverträglichkeit verursachte Erkrankung des Magen-Darm-Trakts, die sowohl Merkmale einer Allergie als auch einer Autoimmunerkrankung aufweist. Sie ist besonders durch eine chronische Entzündung der Dünndarm­schleimhaut aufgrund einer Überempfindlichkeit gegen Bestandteile von Gluten, dem vor allem in Körnern (Samen) vieler Getreidesorten vorkommenden Klebereiweiß, charakterisiert (Wikipedia).

Zur Häufigkeit der Zöliakie gibt es stark schwankende Angaben: Studien gehen mehrheitlich von einer Häufigkeit von unter 1%1 (1 von 100 Personen) der Bevölkerung in den USA und Europa aus. In deutschen Publikationen werden noch niedrigere Zahlen genannt (eine 1 von 270 Personen)2. Die Zöliakie scheint häufiger bei Menschen mit westkaukasischer Herkunft aufzutreten. Bei Menschen afrikanischer oder chinesischer Abstammung wird Zöliakie deutlich seltener diagnostiziert.

Zu häufig um wirklich unwichtig zu sein

Für eine Zöliakie gibt es klare Diganoseverfahren und obwohl die Krankheit in ihrem Schweregrad stark variieren kann, ist sie für die betroffenen Personen oft mit schwerwiegenden Krankheitszuständen verbunden, darunter schwerer Durchfall und Gewichtsverlust.

Außerdem gibt es Hinweise, auf eine Beziehung zu DermatitisKleinwuchs und Pubertas tarda (ICD-10: E30.0), Schwangerschaftskomplikationen und Fehlgeburten, sowie Asplenie (ICD-10: D73.0).

Eine Prävalenz von unter 1% mag gesamtgesellschaftlich nach „nicht viel“ aussehen, ist aber viel zu hoch, um den Sachverhalt zu ignorieren. Es sind in der EU rund 3 bis 4 Mio Menschen oder anders ausgedrückt: statistisch gesehen kommen in ein mittelgroßes Restaurant in Deutschland an jedem Wochendende 2 bis 4 Gäste, die an Zöliakie erkrankt sind. Für diese Menschen ist glutenfreie Nahrung elementar wichtig. Die EU hat das Problem erkannt und regelt die Kennzeichnung von glutenfreien Speisen seit 2009.

Allerdings hat der rechtliche Rahmen zur Kennzeichnung von „Gluten“ in Lebensmitteln in der EU eine etwas holprige Geschichte: eine erste Verordnung (Verordnung (EG) Nummer 41/2009) wurde für längere Zeit außer Kraft gesetzt und erst nach einer (zu langen) Übergangszeit durch die (aktuell einschlägige) Durchführungsverordnung (EU) Nr. 828/2014 ersetzt.

Glutensensitivität ohne Zöliakie?

In bestimmten gesellschaftlichen Gruppen scheint die Nachfrage nach glutenfreier Ernährung zudem deutlich höher zu sein. Anekdotische Berichte sprechen von 50 % bei (vornehmlich jungen) Teilnehmern eines Work-and-Travel-Programms in Kanada.

Das ist eine signifikant große Zahl mit der man Umsatz generieren kann. Für den Hersteller „Dr. Schär Gruppe“ aus Italien ist der Verkauf von „glutenfreien“ Produkten ein sehr einträgliches Geschäft.

Anders als bei der Zöliakie, für deren Existenz es eine klare Evidenz und für deren Diagnose es klare Kriterien gibt, existieren für eine Glutensensitivität ohne Zöliakie aktuell (2019) keine verlässlichen Diagnosekriterien: keine Biomarker, nichts wirklich Validiertes. Die Gluten-Unverträglichkeit ist daher wissenschaftlich gesehen ein schwammiger Untergrund.

Die Evidenz, dass es sozusagen „unterhalb“ der Schwelle zur Zöliakie eine (negativ wirkende) Glutenunverträglichkeit (Glutensensitivität) gibt, gilt in der Wissenschaft als schwach3 unter teilweiser Bezugnahme auf eine frühere Studie4.

Gleichwohl sehen viele Menschen „glutenfreie“ (oder „glutenarme“) Ernährung vor dem Hintergrund einer angenommenen Glutensensitivität als Option für sich (und ihre Kinder). Dies hat zu einem gewaltigen Markt, vor allem in den Industriestaaten, geführt. Im Marktsegment glutenfreie Ernährung ist der italienische Konzern Dr. Schär in fast ganz Europa, Nordamerika, Brasilien, der Türkei, Indien und Israel vertreten. Das Unternehmen gehört in Europa zu den führenden Anbietern glutenfreier Lebensmittel und ist Marktführer in Deutschland und Italien.

Für Menschen, die an Zöliakie erkrankt sind bedeutet die Zunahme der Auswahl an glutenfreien Fertigprodukten unbestritten eine immense Steigerung der Lebensqualität, denn sie werden de-marginalisiert. Und was ist mit dem Rest?

Wer ohne sichere Diagnose auf eine „glutenfreie“ Ernährung umsteigt, könnte eine schlechte Wahl getroffen haben: ein Studien legt nahe, dass eine Glutenfreie Ernährung nicht für jeden gesund ist, weil dadurch das Risiko an Diabetes Typ II zu erkranken deutlich gesteigert wird 5.

„Den täglichen Glutenkonsum einzuschränken, hilft den meisten Menschen vermutlich nicht, einem Typ-2-Diabetes vorzubeugen.“ – Zong, et al.5

Eine Untersuchung aus den USA ergab6, dass 44 % der Konsumierenden, die glutenfreie Lebensmittel kaufen, nicht an einer Gluten-Unverträglichkeit leiden. Von ihnen glauben 65%, dass eine glutenfreie Ernährung im Allgemeinen gesünder sei und 27% greifen zu glutenfreien Produkten, um abzunehmen (wofür es keinerlei Evidenz gibt). Dass bei Menschen ohne diagnostizierte Zöliakie eine glutenfreie Ernährung keinen positiven Effekt zeigt, dafür gibt es ebenfalls gute Belege aus einer placebo-kontrollierten und doppelverblindeten Studie7.

Die 20% der Teilnehmenden mit dem geringsten Glutenkonsum hatten ein um 13% höheres Risiko für einen Typ-2-Diabetes8 (Video der Präsentation).

Auch in der Studie von Zong et al. wurde ein deutlich erhöhtes Risiko, an Diabetes Typ II zu erkranken, unter Studienteilnehmern ohne Zöliakie, die sich glutenfrei ernährten, gefunden. Mit 200.000 Teilnehmenden eine außergewöhnlich breit aufgestellte Studie: Die 20% der Teilnehmer mit dem geringsten Glutenkonsum hatten ein um 13% höheres Risiko für einen Typ-2-Diabetes als die 20% mit der höchsten Zufuhr. Mit Umkehrschlüssen ist (wie stets) Vorsicht geboten: Die Studie entkräftet den Verdacht, Gluten sei ein kardiometabolisches Gift. Für Menschen ohne Gluten-assoziierte Erkrankung gibt es derzeit keine Argumente zugunsten einer glutenfreien Ernährung, sondern eher noch Argumente dagegen8.

Woher kommen all die positiven Erfahrungen mit Glutenfreier Ernährung?


  1. Lebwohl, Ludvigsson, Green, Celiac disease and non-celiac gluten sensitivity, BMJ 2015;351:h4347 ↩︎
  2. R. Keller: Klinische Symptomatik „Zöliakie, ein Eisberg“. in: Monatsschrift Kinderheilkunde. Heidelberg 151.2003, 706–714 ↩︎
  3. Di Sabatino, Corazza, Nonceliac Glut en Sensitivity: Sense or Sensibility? Ann Intern Med 2012; 156: 309-311 ↩︎
  4. Volta, U., Bardella, M.T., Calabrò, A. et al. An Italian prospective multicenter survey on patients suspected of having non-celiac gluten sensitivity. BMC Med 12, 85 (2014) ↩︎
  5. Zong, G. et al. Gluten intake and risk of type 2 diabetes in three large prospective cohort studies of US men and women. Diabetologia 61, 2164–2173 (2018) ↩︎
  6. nach: Diez-Sampedro, Olenick, Maltseva, Flowers: A Gluten-Free Diet, Not an Appropriate Choice without a Medical Diagnosis, J Nutr Metab. 2019; 2019: 2438934 ↩︎
  7. Croall ID, Aziz I, Trott N, Tosi P, Hoggard N, Sanders DS. Gluten Does Not Induce Gastrointestinal Symptoms in Healthy Volunteers: A Double-Blind Randomized Placebo Trial. Gastroenterology. 2019;157(3):881-883 ↩︎
  8. Schumacher, Ärztezeitung 2018 Kommentar – Gluten und Diabetesrisiko Falsche Anschuldigung 

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