Der Psychomarkt
… folgt dem Aneignungsprinzip
Der Begriff Psychomarkt bezeichnet eine unüberschaubare Vielfalt von Angeboten oftmals fragwürdiger psychologischer und psychotherapeutischer Dienstleistungen. Diese pseudotherapeutischen Leistungen kommen als
- psychologische Diagnostiken,
- Lebensberatung und Lebenshilfe,
- Persönlichkeitsentwicklung,
- Psychotherapien, aber auch
- als technische Lösung
daher und suchen bewusst die Nähe zu etablierten Begrifflichkeiten und evidenzbasierten Verfahren (eignen sich dessen Begriffe, soziale Kontexte und assoziierte Inhalte an). So ist etwa der Begriff der Lebenshilfe seit langem durch die Empowerment-Bewegungen aus dem Bereich der Behindertenrechtsbewegung vorgeprägt worden. Im Wege einer für die Szene typischen entfremdenden Begriffaneignung satteln Anbieter auf dem Psychomarkt auf diese Begriffspägung auf. So verwendet etwa die adviqo AG für gewerbliche Angebote aus dem Bereich “Wahrsagen” und “Astrologie” auch die angeeigneten Etiketten “Lebenshilfe”, “Lebensberatung” oder “Antworten auf Lebensfragen”.
… funktioniert durch Täuschen, Einfangen und Ausnehmen
Ein weiteres Merkmal des Psychomarktangebots ist das Spielen mit Verschwörungserzählungen, denen zufolge z. B. “die Pharmaindustrie” eine angeblich revolutionäre Therapie unterdrückt. Angebote gerieren sich unter dem Deckmantel, eine “Alternative” zu sein, als Underdog oder Außenseiter-Spitzenreiter. Interessierte Kunden werden dann möglichst schnell selbst in den Vertrieb eingebunden.
Ähnlich wie im Multi-Level-Marketing werden Vertriebssysteme in sehr kurzer Zeit etabliert. Hierzu dient in der Regel eine positive Erzählung, welche den Kunden zum Helden einer Geschichte macht. Besonders perfide ist dies, wenn die getäuschten und eingefangenen Kundinnen ihre Einbindung in das Vertriebsmodell dann auch noch selbst finanzieren sollen, etwa durch “Diplome” oder “Zertifikate” von selbst ernannten Instituten. Oft wird ein “Aufstiegsmodell” suggeriert, welches sich angeblich dadurch finanzieren soll, dass man mit dem eigenen Geldverdienen bereits beginnt, ehe man die “Qualifikation” abgeschlossen hat (“earn as you learn”).
Dieser “Sturz in den Kaninchenbau”, wie es eine Betroffene einmal nannte, beginnt oft mit der perfiden Frage, ob man nicht auch etwas Gutes für die eigene Familie oder andere Menschen tun wolle. Schließlich habe man ja selbst bereits erfahren, wie vermeintlich gut das Produkt sei. Nur wenige Menschen können sich von solchen Praktiken problemlos distanzieren, da wir alle dazu tendieren, uns als Heldinnen unserer eigenen Geschichte zu sehen. Natürlich wollen wir alle auf der Seite des Guten stehen. Natürlich wollen wir alle helfen. Und das man mit dem Helfen dann auch noch Geldverdienen können soll, stört selbstverständlich nicht.
Typisch ist auch, dass vielfach mit Autoritätsargumenten gearbeitet wird. So werden oft Markenzeichen eingetragen oder Begriff markenrechtlich geschützt, um so den Eindruck zu erwecken, als sei damit ein Wirksamkeitsbeweis verbunden, was gerade nicht der Fall ist. Auch arbeitet die Psycho-Markt-Szene gerne mit gekauften akademischen Titeln.
… kreiert vielfaches Victim-Blaming und führt zu Re-Traumatisierung
Typisch für den Psychomarkt ist ein Spiel mit Hoffnung, Neugier, Schuld und Scham der Betroffenen. Auf diese Weise wird einerseits ein Zugang zur Kundin geschaffen, andererseits bleiben unseriöse Praktiken lange verborgen, weil geschädigte Personen aus Scham und Wut über die vermeintlich eigene Leichtgläubigkeit keinen Kontakt nach außen suchen. Besonders perfide ist dabei, dass die Scham größer wird, je größer der Schaden ist.
Dies wird nicht selten von realen und negativen Erfahrungen mit Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden begleitet. Aus vielen Gesprächen wissen wir, dass geschädigte Menschen, die sich an öffentliche Stellen wenden, von diesen oft Hohn und Spott statt Verständnis und Empathie entgegen gebracht wird. Dies führt zu teils schlimmen Retraumatisierungserfahrungen.
… ist extrem unreguliert, dabei extrem lukrativ
Der Psychomarkt ist nicht nur ein antropologisches Panoptikum, sondern in erster Linie ein Markt und zwar ein weitgehend unregulierter. Der Psychomarkt ist ein extrem kommerzialisierter Bereich. Der Umsatz pro Jahr wird in Deutschland je nach Definition auf zwischen 5 und 10 Milliarden Euro geschätzt. Die Zahl der Anbieter von esoterischen und alternativen psychologischen Behandlungen in Deutschland wurde laut “Zeit” im Jahr 2011 auf 10.000 bis 20.000 geschätzt.
Für das Jahr 2020 gehen wir davon aus, dass die Zahl der Akteuere nicht mehr stark gewachsen ist, dass sich aber in Folge einer Professionalisierung des Marktes Umsatz und Gewinn deutlich erhöht haben. Unsere Einschätzung für 2020, die auf Sichtungen aus den Jahren 2018 und 2019 beruht, sieht den Markt bei etwa 30 Milliarden Euro im deutschsprachen Raum bei etwa 20.000 Anbietern, von denen allerdings etwa 5 % (1.000 Akteure) rund 85% des Umsatzes erzielen dürften. Auf diese 1.000 Hauptakteure entfallen damit jeweils etwa 250 Mio. Euro … pro Jahr.
Unsere Arbeit
Wir beraten betroffene Personen und ihre Angehörigen und arbeiten mit Selbsthilfegruppen zusammen, die wir professionell unterstützen. Außerdem sammeln wir Berichte von betroffenen Personen und erstellen so Tätigkeits- und Handlungsprofile. Wo immer möglich klagen wir gegen Rechtsverstöße, sofern sie greifbar sind. Dabei nutzen wir auch ein Netz von Testkaufenden und Testkundinnen, um szenetypische Vertriebsstrukturen von innen analysieren zu können.
Außerdem begleiten wir Betroffene, die um ihr Recht kämpfen wollen, durch Verfahrensbegleitungen und -beratungen, von der Anzeigenerstattung bis zur Teilnahme an Gerichtsverfahren.
In mehreren größeren Verfahren wurden auf Grundlage unserer Arbeit umfangreiche Steuerstrafverfahren eingeleitet.
Dazu unterhalten wir eine umfassene Stoffsammlung einschließlich einer großen Bibliothek zu vielen Marktangeboten. Seit 2016 bauen wir eine Ausstellung mit wirkungslosen Produkte unter dem Arbeitstitel “Bullshit for Sale” auf (wir freuen uns über Zusendungen von wirkungslosen Produkten).